Aktienmarkt: Wir stehen
vor der wohl stärksten Aufwärtswelle

Von Jürgen Lutz – IFRAS

Heute möchte ich angesichts des scharfen Abwärtstrends an den Aktienmärkten im Jahr 2022 und der zahlreichen Debatten ein für IFRAS untypisches Thema in den Blick nehmen. Konkret lautet die weitreichende Frage: Wie dürfte es an den Aktienmärkten weitergehen – nicht kurzfristig, sondern in den nächsten Jahren?

Abgesang auf den Aktienmarkt wird immer lauter

Leser des IFRAS-Blogs wissen, dass systematische Anlagestrategien keine Prognosen brauchen. Im Gegenteil, man sollte sie sogar meiden. Denn viele Prognosen liegen daneben und können somit der Performance ernsthaft schaden. Warum also beschäftigen wir uns nun doch damit? Der Grund: Der Abgesang auf den Aktienmarkt schwillt derzeit so stark an, dass Buy-and-Hold-Anleger, aber auch systematische Investoren in schweres Grübelgewässer geraten. Hat ihr Investmentstil in Zukunft noch Chancen oder müssen sie das Ruder schleunigst herumreißen? Zahlreiche Anfragen an die Redaktion belegen diese Unsicherheit. Die Gefahr ist nun, dass etliche Anleger fast genau zum Tief des Abverkaufs aus dem Aktienmarkt aussteigen, bevor dieser wieder nach oben zieht.

Quelle: iQoncept

Viele scheinbar gute Gründe für Pessimismus

Gute Gründe für einen Ausstieg bzw. oder wenigstens eine Reduktion der Aktienquote gibt es ja zuhauf, nicht wahr? Eben erst – nach vier Monaten sattem Abwärtstrend!!! – hat sich etwa die Privatbank M.M. Warburg derart geäußert. Die Gründe: Da wäre zum einen die außergewöhnlich hohe Inflation, die die Notenbanken sträflich vernachlässigt haben. Damit verbunden und durch die Null-Covid-Strategie Chinas bedingt, haben wir es mit zerbrochenen oder strapazierten Lieferketten zu tun. Zum anderen steigen die Zinsen, bisher in den USA, später wohl auch in Europa, was Anleihen attraktiver macht und weshalb es Aktien bald schwerer haben dürften. Schließlich schwebt das Damoklesschwert des Krieges zwischen Russland und der Ukraine über uns – was, wenn sich dieser Konflikt unkontrollierbar verschärft?! Und überhaupt: Wer weiß, was morgen noch auf uns zukommt!

Position im Aktienzyklus ist wichtiger als Argumente

All diese volkswirtschaftlichen und politischen Argumente sind zutreffend. Und doch sind sie so irrelevant, wie solche Argumente zu jeder Zeit in der Börsengeschichte waren. Sie stellen nichts anderes dar als Meinungen oder Einschätzungen. Fakt ist aber: Niemand auf diesem Planeten weiß, welche Kräfte sich am Aktienmarkt durchsetzen werden. Aus diesem Grund sind wir bei IFRAS klare Verfechter von systematischen Anlagestrategien, die keine Vorhersagen benötigen. 

Wellentheorie basiert auf der Massenpsychologie der Anleger

In Zeiten größerer Verunsicherung kann jedoch eine Klärung, wo genau wir im langfristigen Zyklus des Aktienmarkts stehen, sehr hilfreich sein. Denn eine korrekte Bestimmung dieser Position kann Käufe und Verkäufe zur (absoluten) Unzeit verhindern bzw. sie kann sinnvolle Zukäufe ermöglichen. Aufgrund ihrer hohen Aussagekraft greife ich hierzu auf die Wellentheorie zurück, die ihre Basis im Wandel der (Massen-)Psychologie der Anleger hat.  

Für unsere Betrachtung nutzen wir wegen seiner Relevanz und wegen der klaren Struktur des US-Aktienmarkts den S&P 500. Der Index versammelt die 500 nach ihrer Marktkapitalisierung größten Konzerne, die in den USA gelistet sind. Werfen wir zuerst einen Blick auf den ultralangfristigen Chart seit 1928.  

Der ultralangfristige Chart des S&P 500 seit 1928

Quelle für alle Charts: Finance.yahoo.com

Bullenmärkte dauerten jeweils ein Vierteljahrhundert

In diesem logarithmischen Chart des S&P 500 mit Monatskerzen (jeweils grün oder rot, unten: Handelsumsätze) sind folgende Muster zu sehen: Die Börsenhistorie beginnt mit einem sehr wilden Bärenmarkt mit tendenziell fallenden Kursen von 1928 bis 1942. Darauf folgt ein Bullenmarkt mit tendenziell steigenden Kursen von 1942 bis 1968. Dann kommt ein Bärenmarkt von 1968 bis 1974. Von 1974 bis 2000 schließt sich erneut ein Bullenmarkt an. Dem folgt ein weiterer Bärenmarkt von 2000 bis 2009. Seit 2009 schließlich haben wir einen Bullenmarkt. 

Das bedeutet: Die Bärenmärkte dauern zwischen 6 und 14 Jahren. Die beiden bisher vollendeten Bullenmärkte nehmen je 26 Jahre oder rund ein Vierteljahrhundert in Anspruch. Wenn wir dieses sehr langfristige Muster auf die aktuelle Situation übertragen, heißt das: Der aktuelle Bullenmarkt sollte erst Mitte der 2030er-Jahre enden!!! Dies ist das erste wichtige Argument, um Aktien jetzt nicht zu verkaufen!

Impulswelle I rollt von 2009 bis 2018 in fünf kleineren Wellen

Zoomen wir uns nun ein auf den aktuellen Bullenmarkt, der 2009 begonnen hat. Was stützt auf dieser Zeitebene die These, dass der Aktienanstieg bis 2035 weitergehen könnte? Der Bullenmarkt, den wir weiter oben noch als einen monolithischen Block beschrieben haben, teilt sich nun, sichtbar an den Wochenkerzen, in mehrere typische Wellen auf (Chart über diesem Absatz): Die Impulswelle 1 der Großwelle I dauerte von 2009 bis 2011, dann kam es in der Welle 2 zu einer Korrektur. Daraufhin folgte die oft stärkste bzw. längste Impulswelle 3, die in diesem Fall von 2012 bis 2015 währte. Danach lief bis Anfang 2016 die Korrekturwelle 4. Von 2016 bis in den Herbst 2018 schließlich zog Impulswelle 5 den Index auf knapp 3.000 Punkte hoch. 

Korrekturwelle II dauerte von 2018 bis 2020 

Mit diesen fünf Wellen war die erste große Impulswelle (Welle I) des 2009er-Bullenmarktes „im Kasten“. Sie dauerte also von 2009 bis 2018. Danach war per definitionem auf dem Grad der Welle I eine Korrekturwelle II zu erwarten. Und auch wenn es auf diesem Chart nicht glasklar erscheinen mag: Diese Korrekturwelle II dauerte von Ende 2018 bis März 2020. Wegen des Hochs bei 3.500 Punkten und dem Corona-Tief bei gut 2.200 Zählern hat sie die Form eines Megafons. Wer nicht überzeugt ist, dass es sich um eine IIer-Korrektur handelt, sollte sich den DAX anschauen. Dieser Index krachte im Corona-Tief von 14.000 kommend bei fast 8.000 Punkten auf – das war in etwa das Hoch von 2000 und 2007 und definitiv eine schmerzhafte Korrektur!

Impulswelle III schießt wie eine Fontäne aus dem Corona-Tief

Wie erwähnt, ist die dritte Impulswelle  meist die stärkste in einem Aktienmarkt-Zyklus. Die aktuelle große Impulswelle III, die im Frühjahr 2020 nach dem Corona-Crash begann, ist ein gutes Beispiel für diese Power: Sie schoss wie eine Fontäne aus dem Tief heraus und demonstrierte über mehr als eineinhalb Jahre eindrucksvoll ihre Kraft – Sie sehen diese Impulswelle am rechten Rand des Wochen-Charts (2. Chart) sowie im Chart direkt über diesem Absatz mit Tageskerzen von April 2020 bis Dezember 2021. Dabei sollte man nicht vergessen, dass es sich um die Welle 1 der größeren Welle III handelt. Der stärkste Teil des Bullenmarktes von 2009 bis 2035 dürfte damit noch vor uns liegen.

Viele Anleger verzweifeln am scharfen Zick-Zack der 2er-Korrektur

Wer das nicht weiß, der verzweifelt momentan vermutlich an der Korrekturwelle 2 der III. Denn diese Welle präsentiert sich in einem scharfen Doppel-Zick-Zack, der nicht nur mächtig auf die Nerven, sondern auch an den Geldbeutel geht. Gemeinsam mit den oben erwähnten „guten Gründen, warum Aktien jetzt so gefährlich sind“, rüttelt dieser Shake-Out am Nervenkostüm der Anleger. Und doch: Begreift man die Korrektur seit Anfang 2022 als Welle 2 der III, dann rücken sich die Dimensionen zurecht! Vom Anstieg der Welle 1 der III (von 2.200 auf 4.800 Punkte, ein Anstieg um satte 2.600 Zähler), wurden in der 2 der III bisher maximal 1.000 Punkte abgegeben. Das entspricht einem Rückgang von 38 Prozent und einem typischen Fibonacci-Retracement in starken Aufwärtswellen wie IIIer-Wellen. 

Quelle: eyetronic

Die stärkste Aufwärtswelle im Bullenmarkt dürfte jetzt oder in Kürze beginnen

Meine klare, vermutlich aber provokative These ist daher: Die Korrekturwelle 2 der III dürfte ziemlich genau mit dem 12. Mai 2022 geendet haben. Dafür sprechen die letzte Wochenkerze (langer Docht nach unten = Bullen erobern kraftvoll erstes Gelände zurück), die zeitliche Ausdehnung der Welle 2, ihr prozentualer Rückgang um 38 Prozent und die Tatsache, dass wir uns in der Großwelle III des Bullenmarkts seit 2009 befinden. Die logische Konsequenz wäre: Jetzt oder in Kürze beginnt die Welle 3 der Großwelle III und damit das Filetstück des gesamten Bullenmarktes seit 2009, in dem sich ziemlich mühelos Geld verdienen lässt. Aber: Es kann sein, dass aus dem Double Zig Zag noch ein Triple Zig Zag wird. Dann müssten wir uns auf weitere zwei bis drei Monate mit Abwärtstendenz einstellen. An der Grundstruktur, dass danach die größte Aufwärtswelle im Bullenmarkt kommen sollte, ändert dies aber nichts.

Anleger haben wohl ein paar sehr gute Jahre vor sich

Diese Welle III könnte mit der unvermeidlichen, aber wohl seichten Korrekturwelle 4 und der letzten Impulswelle 5 zwischen drei und fünf Jahren andauern und den S&P 500 auf ein Niveau heben, das sich heute nur die allerwenigsten vorstellen können. Daran würde sich gemäß der Wellentheorie zwangsläufig eine Korrekturwelle IV und dann eine letzte große Impulswelle V anschließen. Wenn diese Bewegungen abgeschlossen sind, dürften wir uns Mitte der 2030er-Jahre befinden. Erst dann dürfte ein mehrjähriger Aktienwinter oder ein neuer säkularer Bärenmarkt auf uns zukommen, wie wir sie im ersten Chart identifiziert haben.

Die Massenpsychologie schafft Fakten, die Gründe werden nachgeliefert

Bitte fragen Sie mich nicht, welche fundamentalen Gründe es für diese Entwicklung geben soll. Diese Gründe können wir jetzt noch nicht kennen, sie werden wie immer in der Börsengeschichte „nachgeliefert“. Doch aus Sicht der psychologisch basierten Wellentheorie ist dies der wahrscheinlichste Gang der Dinge. Technische und besonders fundamentale Analysten raufen sich angesichts dieser Aussagen die Haare, denn in der Tat fehlen jetzt natürlich noch die Fakten, die diese Entwicklung stützen könnten. Aber mal ehrlich: Ich persönlich folge lieber einem Ansatz, der mich frühzeitig auf die richtige Spur bringt als hinterher erklären zu können, warum es so kommen „musste“.

Fazit: Einen Verkauf von Aktien jetzt halte ich für kontraproduktiv. Eher kann man über eine Aufstockung nachdenken, sofern dies möglich ist und die höhere Aktienquote dem Risikoprofil noch entspricht. Aber: Basis dieser Aussagen sind breite Indizes wie der S&P 500. Einzelaktien können sich anders bewegen, müssen es aber nicht. Schließlich, so sagte es wohl Warren Buffett, kann die Flut alle Boote heben.

Urheberrecht: IFRAS/Jürgen Lutz

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